Plastizieren 10. Klasse Teil II    

Übungen IV bis VII

Übung IV - die kristalline Form

Grundelementen:

Wir fügen fünf tennisballgrosse Tonklumpen wahllos zusammen, pressen sie ein wenig aneinander und verstreichen die Fugen.

Jetzt stellen wir uns vor, dass der gesamte Umraum von unsichtbaren, planen, völlig ebenen Flächen durchzogen wäre. Das heisst nicht nur Vertikal- und Horizontalflächen, sondern alle möglichen Flächen mit beliebigen Winkeln zueinander.

Wenn wir eine sichtbare Fläche - sagen wir ein Brett - an unsere Grundform heranziehen und dieses an die Tonoberfläche stossen, würde bei Berührung die Tonoberfläche abgestumpft werden. Es würde ein Abdruck des Brettes auf der Tonoberfläche zurückbleiben.

Unsere Aufgabe ist es nun von allen Seiten unsichtbare Flächen an die Grundform heranzuziehen, mit den Fingerkuppen (Daumen und ganzer Handfläche) die entstehenden Berührungsflächen sichtbar zu machen und so lange mit dieser Tätigkeit fortfahren, bis die gesamte Grundform von lauter planen, ebenen Flächen eingeschlossen wird.

Was entsteht ist eine freigeformte, kristalline Form.

Es empfiehlt sich nicht zu viele Flächen heranzuziehen. Die kristalline Form muss übersichtlich bleiben. Lieber verzichten wir auf gewisse kleinere Fläche zu Gunsten einer klar-gefassten und aussagekräftigen Form.

Auch bei dieser Tätigkeit müssen wir die allmähliche Veränderung der Grundform genau verfolgen. Dort wo sich zwei Flächen begegnen, werden sich Kanten bilden. Es können scharfe wie stumpfe Kanten entstehen, alle Kanten werden aber letztlich Geraden.

Zuletzt darf keine Wölbung oder Krümmung mehr vorhanden sein.

Bei der Bildung dieser Form achten wir auf die Winkelbezüge, die die Flächen zueinander eingehen. Im Entstehen können wir noch Einfluss nehmen darauf, wie diese Winkel letztlich unserem Wohlgefallen am meisten entsprechen und können sie demgemäss gestalten.

Das Empfinden, das durch diese völlig kristalline Form in uns ausgelöst wird, müssen wir uns so voll bewusst machen.

Es ist von der Qualität so anders als die Empfindungen der Formen der vorhergehenden Übungen. So, wie bei der Farbenpalette jede Farbe eine ganz eigene Empfindungsqualität auslöst und sich jede Farbe klar von den anderen unterscheiden lässt, so lernen wir im Plastischen eine Art "Form-Palette" kennen.

Bei der Gestaltung dieser Flächen müssen wir uns realisieren, dass von jeder herangezogenen Fläche nur ein Teil sichtbar wird, denn jede Fläche wird begrenzt von anderen. Jede Fläche für sich kann eigentlich bis ins Unendliche fortgesetzt gedacht werden.

Das ist das Besondere dieser Form, dass die Gestaltungskräfte einen realen, kosmischen Bezug eingehen.

Zugleich scheint diese Form der Schwerkraft enthoben. Sie wird an keiner Stelle das Empfinden einer drückenden Last erwecken können.

Wenn die Form vollendet ist (das heisst, wenn sie exakt gearbeitet ist und dem Designer gefällt), dann beoabachten wir noch einmal prüfend die Beziehungen der Flächen zueinander.

Zunächst erfasst unser Blick meist den geschaffenen Raumkörper. Die Flächen wirken dann körperbegrenzend. Aber es gibt auch Kehlen (nach innen geschlagenen Kanten). Schauen wir diese Stellen prüfend an, dann können wir nicht umhin die angrenzenden Flächen der Kehle so aufzufassen, dass sie über die Form in den Raum hinausführen! Hier stellen wir fest, dass den planen, ebenen Flächen etwas Ambivalentes (Doppeldeutiges) innewohnt. Sie kann den Körper begrenzen und kann zu gleicher Zeit raumumgreifend sein.

Diese Ambivalenz der planen, ebenen Fläche müssen wir uns zuletzt gründlich einprägen.

Beispiel: Constantin Brancusis "Colomb sans fin". Gleichförmige, kristalline Segmente scheinen endlos aneinandergefügt; Segmente, die uns wie Oktaeder erscheinen. Die Schüler bestätigten immer wieder, dass sie eine Reihung von Raumkörpern sahen. 

Betrachtet man nun die Enden dieser Säule, dann sieht man, dass sie aus dem Gegenbild der zunächst gewonnenen Vorstellung aufgebaut ist: unten (als Basis) ist eine Pyramide und oben (letztes Segment) ist eine "umgekehrte" Pyramide. Mit einer neuen Auffassung geht nun der Blick der Säule entlang und nimmt nun eine andere Segmentierung wahr als vorher.

In diesem Zusammenhang muss ein Hinweis gegeben werden auf die Stilperiode des Kubismus. Viele namhafte Bildhauer haben diese Stilelemente auch eine Zeit lang in ihrem Wirken aufgenommen. Über die Bildhauer berichte ich auf ein extra Registerblatt.

Kunstgeschichtlich sind die kristalline Formen in der Alt-Ägyptischen Zeit vertreten.


Übung V - die organische Form

Ich habe diese Übung "Punktübung" genannt.

Gegeben sind: der Raum und die leere ebene Fläche.

Ein Punkt wird mit einem Tondrücker bestimmt.

Weitere Tondrücker werden so hinzugefügt, dass sie sich wahllos (dh. allseitig) um den ersten Tondrücker hin wie um ihr Zentrum formieren.

Wenn wir diesen Vorgang sorgfältig durchführen - ohne den erstgesetzten Drücker aus dem Bewusstsein zu verlieren - dann bildet sich allmählich eine halbkugelartige Kuppe.

Es ist entscheidend, dass der Mittelpunkt dieser Halbkugel, der nun unsichtbar und von vielen Drückern überdeckt wurde, wie ein Kraftzentrum erscheint. Vielleicht ähnlich einem Magneten, der um seinen Pol Eisenteilchen ansammelt.

Fahren wir fort mit dem Aufsetzen von Tondrückern, so werden wir bald unabhängig von dem augenblickswillkürlichen Ort, wo wir diese Tonstückchen aufsetzen. Es ist wie wenn wir uns mit der gesamten Oberfläche verbinden, die sich unter unserer rhythmischen Tätigkeit gleichmässig ausdehnt.

Ebenso wenig wie wir uns beim Wandern damit beschäftigen wie wir den einen Fuss nach dem anderen Fuss auf den Boden aufzusetzen, sondern unseren Blick frei auf die sich verändernden Landschaft richten, ebenso soll der Blick frei werden für die sich vergrössernde Kugeloberfläche.

Im Betrachten dieser Tätigkeit kann erlebt werden, wie das halbkugelartige Volumen wie ein dichter Spannungsraum zu wirken anfängt. Wenn wir Tonstückchen aufsetzen, entfernt sich unsere Hand jedes Mal real etwas weiter von dem gesetzten Mittelpunkt. Dann kann plötzlich das Empfinden wahrgenommen werden, dass dieses Volumen wächst. Die Empfindung hat sich umgekehrt.

Wenn die Basis der Halbkugel etwa die Breite unserer Handfläche hat, versuchen wir beim weiteren Aufsetzen von Tonstückchen den Mittelpunkt anzuheben (dh. die Kreislinie der Bodenfläche bleibt dieselbe!).

Jetzt versuchen wir - durch weiteres Aufsetzen - die Form in die Höhe zu strecken. Der Mittelpunkt streckt sich ebenso und wird zu einer Mittel-Linie.

Zuletzt soll die Mittellinie sich gabeln.

Man kann diese Übung weiterführen und in die nächste übergehen lassen. Die Oberflächenbehandlung habe ich hier nicht erwähnt. Mit den Schülern würde ich die verschiedenen Möglichkeiten der Oberflächenbehandlung besprechen (erinnern an Steinen, Borken, Rinden, Wurzeln etc.). Man kann sie verschieden lösen, nach eigenem Gutdünken arbeiten.


Übung VI   Körperstudie

Diese Übung kann mit grösseren Tonstückchen aufgebaut werden. Das Volumen wird vom Anfang an in die Aufrechte gedacht. Es soll eine bewusste Auseinandersetzung mit der Schwerkraft, dem Gleichgewicht und dem Raum stattfinden, die Flächen konvex bilden (sich behauptend), feine Schwingungen können den Körper leicht bewegen).

Die Oberfläche muss entsprechend der "Eigenbehauptung" bearbeitet werden. Ich erinnerte an Rinden von Bäumen, an das Fell von Tieren und bat keine geschleckte, glatte Oberfläche wie die eines Seehundes zu wählen. Die Oberfläche soll das, was im Innern vor sich geht, spiegeln.

Ist der Entwurf gelungen, wird jeder bemerken, dass nicht nur ein "Oben-Unten", sondern auch ein "Vorne-Hinten" und ein "Rechts-Links" geschaffen worden ist. Die Form kann nun noch gesteigert werden, wenn die letzteren Raumbezüge bewusst durchgestaltet und optimiert werden. 

Welche Bildhauer des 20. Jahrhunderts ich jeweils gewählt habe, möchte ich separat besprechen. Jeder Lehrer soll jeweils ein oder mehrere Bildhauerwerke, das Zitat eines Bildhauers oder eine kurze Schilderung einer Biographie auswählen. Das gehört in der Vorbereitung zur Lektion und kommt überzeugender an, als wenn ich das hier vorgebe.


Übung VII  Raum-Ergreifen

Durch Gestik und Pantomime kann der Mensch den Raum ergreifen. Was kann die Raum-Gebärde eines Menschen nicht alles bedeuten! Nur haben wir leider so dünne Arme! Die Gebärde kann durch die Haltung der Hand zwar etwas gesteigert werden. Die Plastik aber vermag hier viel mehr.

Sie kann auf einmal den ganzen Bewegungsablauf manifestieren vom Ansatz an. Sie kann ihn nach Belieben erhöhen und ausdehnen und kann weitere Gesten dieser Art hinzufügen, die den Ausdruck begleiten oder steigern.

Die folgende Übung soll dieses plastische "Gestikulieren" voll auskosten.

Wir arbeiten möglichst rasch eine Grundform, die wir in die Höhe wachsen lassen. Standfestigkeit muss sie haben. Weiter soll sie sich in die Raumesrichtungen orientieren, dh. das Oben-Unten ist uns beim Aufbauen schon bald geschenkt, für das Vorne-Hinten und für das Rechts-Links braucht es für die Grundform eine erste Anstrengung.

Jetzt steigern wir den Wunsch, den ganzen Umraum ergreifen und durchdringen zu wollen, zu allen Anwesenden werden wir einen Bezug aufbauen und wollen sie in die Magie unserer Form miteinbeziehen.

Wir arbeiten mit Flächen, die nicht wie vom Wind aufgeblasen erscheinen, sondern mit Flächen, die aktiv in den Raum hinausgreifen und den Raum durchpulsen.