Kunstunterricht 12. Klasse

Ästhetik-Lehre

2002, eine andere Möglichkeit um die Ziele dieses Faches in drei Wochen zu erreichen.

In der dreiwöchigen Kunstepoche der 12. Klasse setzten wir uns mit Grundelementen der Baukunst auseinander. Wir betrachteten und besprachen verschiedene Bauwerke, unternahmen Exkursionen in die Altstadt von Zürich, wie zum Bahnhof von Stadelhofen, auch machten wir einen Studienrundgang durch den eigenen Neubau der RSSZO. In der letzten Woche dieser Epoche bekamen die Schüler den Auftrag auf Grund ihrer eigenen Erlebnisse ihre eigene Ästhetiklehre zu schreiben.                                                                                                                                              Im Folgenden einige Kernsätze, die mir die Schüler nach Abschluss dieses Unterrichtes geschrieben haben.

"Dieser Unterricht beinhaltete nicht erzähltes Material vom Lehrer, sondern wurde etwas sehr Eigenes."

"Die Ästhetik fasst man in ganz kurzen Momenten, gleich ist es wieder weg."

"Die Ästhetik öffnet einem für vieles, was man vorher unbeachtet liess."

"Ich betrachte ein Gebäude mit anderen Augen als noch vor kurzer Zeit."

"Wir haben gelernt, unser Auge zu schulen."

"Am Ende dieser Epoche stehen wir also ganz am Anfang."

Warum entschlüpft "es" einem immer wieder? Warum wird "es" "etwas sehr Eigenes" genannt? Warum sehen die Schüler vieles neu und wird gesagt: "Wir haben gelernt, unser Auge zu schulen"?

Was bei den jungen Menschen neu ins Bewusstsein drang, entstammte nicht der Umwelt. Diese hatte sich in nichts verändert. Was eintraf, war die völlig neue Bezugnahme zur Welt. Die Jugendlichen vollzogen den besonderen Schritt, dass sie selber Objekt ihrer Beobachtung wurden. Durch verschiedene Übungen wurde der Blick von der sinnlichen Wahrnehmung auf die eigenen Empfindungsqualitäten gerichtet. Wer diese Übungen nicht tat, hatte natürlich solange keine Ergebnisse bis auch sie die Übungen selbsttätig durchführten.


Eine erste Übung:

Gleich zu Anfang der Epoche mussten die Schüler sich eine Wand vorstellen und sich fragen, was die Wand im Raum bewirkt.

"Sie trennt, sie grenzt ab, sie teilt," waren Antworten.

Was geschieht nun, wenn die Wand verformt wird, wenn daraus eine flache, weit gebogene Zylinderfläche entsteht?

"Sie grenzt ein Gebiet ein, ein anderes Gebiet wird ausgegrenzt. Es entsteht ein Innen und ein Aussen."

Was geschieht, wenn die Wand sich schliesst und zum Zylinder wird?

"Es entsteht ein Turm. Sie schliesst ab. Sie wehrt ab."

Ich fragte die Schülerinnen und Schüler, ob sie gemerkt hätten, wie sie urteilten. Sie hatten von "Trennen, Abgrenzen, Teilen, Ein- und Ausgrenzen, von Abschliessen und Abwehren" gesprochen. Tut das alles eine Wand? Natürlich nicht. Die Wand ist, was sie eben ist; aber der Mensch tut etwas, wenn er die Wand betrachtet. Er belebt das tote Bild, durchdringt es mit seiner bildenden Phantasie - und was die Schülerinnen und Schüler zum Ausdruck gebracht hatten, war eine Vielzahl von Empfindungen, die sie während der Beobachtung selber aktiv erzeugt hatten.

Das Eigentümliche ist, dass wir meist vor unseren Empfindungen zurückschrecken, indem wir meinen, sie seien subjektiv, stellen dann aber fest, dass sie gegenseitig verstanden und ergänzt werdenᵃ).

Über Empfindungen kann man sich objektiv austauschen.

Die nächste Übung bestand darin, sich Farben vorzustellen. Deren Qualitäten wurden charakterisiert, und wir stellten fest, dass sich auch hier an der Beobachtung Empfindungen anschliessen, die als gemeinsam und objektiv bezeichnet werden können: strahlend bei Gelb, warm und aktiv bei Rot, ruhend und sich weitend bei Blau.

Im Verlauf der ersten Tage wurden Übungen solcher Art gemacht. So untersuchten wir auch verschiedenste Bauelemente wie Pforten, Bögen, Gewölbe, Stützen, Treppen u.s.w.


Eine zweite Übung trat hinzu (hier als Beispiel, es wurden auch andere Werke betrachtet):

Die Kirche Notre Dame du Haut von le Corbusier in Ronchamp (Bilder hierzu unten) wurde anhand von Dias betrachtet. Jede Ansicht wurde durch eine folgende ergänzt, bis wir einen Rundgang um die Kirche gemacht hatten. Dazu kamen ein Aufriss und eine Aufnahme des Innenraumes.

Die Vielzahl der Eindrücke musste verarbeitet werden, wobei immer wieder der Blick auf das Ganze mit einbezogen wurde: Nicht die Summe von Einzelheiten, nicht die Addition verschiedener Bauelementen führt zum Gesamtbild. Was geübt wurde, war das Verständnis des Zusammenklanges aller Elemente: die Komposition.

Man wird erinnert an die Musik: Töne, Intervalle, Harmonien, Kompositionen.

Wer Zugang zur Komposition eines Kunstwerkes findet, erlebt dessen Wesen. Die Kunstbetrachtung wird auf dieser Stufe zur Wesensbegegnung.


Eine dritte Übung:

Durch die Wesensbegegnung werden die innewohnenden Gesetze erfahrbar.

Durch die denkende Durchsetzung erlebt man die geistige Struktur des Kunstwerkes. Innenraum und Aussenraum der Kirche von Ronchamp enthüllen ihre inneren Werte. Die apsidiale Form der Altarnische ist geronnene Andacht, ist zur Stofflichkeit erstarrte demütige Hingabe.

Die Aussenkirche, die über den Stoff in den Umraum hinausgreift, ist kosmische Raumorientierung.

Bei dieser übenden Auseinandersetzung mit der Baukunst haben wir vier Stufen zu unterscheiden:

1. Die exakte, sinnliche Beobachtung der Objekte.

2. Die Beobachtung innerer Empfindungen, die in uns ausgelöst werden, wenn wir dem

Wahrnehmungsobjekt gegenübertreten ᵃ).

3. Die Wesensbegegnung (Komposition).

4. Die vom klaren Denken erfasste, dem Kunstwerk innewohnende Gesetzmässigkeit.

Auf Grund dieser vierzehntägigen Erlebnisse schrieben die Schüler in fünf Doppelstunden ihre eigene Ästhetiklehre.

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Dürnten, 29.09.2019                                                                                       Hans van der Heide

Genaue Angaben zu dieser Epoche, Literaturverzeichnis und weitere Hinweise werden hier noch erfolgen.

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ᵃ) Bei der Selbstbeobachtung sollen die Empfindungsqualitäten gesucht werden. Sie treten wie Resonanzen in Bezug auf die Wahrnehmung auf. Wird dagegen die Wand als z.B. Begrenzung eines schrecklichen Getthos erlebt, kann das Bild der Wand durchaus auch ein tiefes Gefühl der Abneigung auslösen. Im letzteren Falle berühren wir eine innere, rein persönliche Ebene. Es ist die Ebene, auf der wir üblicherweise sagen: "über ein Geschmack lässt sich nicht streiten." Die tieferliegende, persönliche Ebene der Gefühle sagt meistens mehr über die Person als über den beobachteten Gegenstand etwas aus. Die Gefühlsebene ist deshalb nicht weniger real, nur in Bezug auf den ästhetischen Wert des Beobachtungsobjektes kann sie nicht angewendet werden, denn hier "scheiden sich die Geister".